Corona in Baden-Württemberg
Politisches Nachspiel: Kritik nach „Querdenker“-Demo in Stuttgart

Corona in Baden-Württemberg Politisches Nachspiel: Kritik nach „Querdenker“-Demo in Stuttgart

Quelle: Christoph Schmidt

Tausende Menschen fast ausnahmslos ohne Mund-Nasen-Schutz und ohne Mindestabstand gehen in Stuttgart gegen die Corona-Politik auf die Straße – zum Entsetzen vieler. Das hat ein politisches Nachspiel.

Rund 15 000 Menschen haben sich bei einer Kundgebung gegen die Corona-Politik in Stuttgart größtenteils ohne Masken und Mindestabstand versammelt und die Stadt in große Erklärungsnot gebracht. Diese wehrte sich gegen den Vorwurf, die Veranstaltungen der «Querdenker» nicht verboten zu haben. Sozialministerium, Innenminister Thomas Strobl (CDU) und Stadt kündigen eine Aufarbeitung an. Mehr als 1000 Polizisten waren zussammen mit Einheiten aus anderen Bundesländern und der Bundespolizei im Einsatz, schritten wegen der Verstöße gegen die Corona-Regeln aber kaum ein – nicht zum ersten Mal in Deutschland.

Zuletzt hatte am 20. März eine Demonstration in Kassel mit mehr als 20 000 Menschen für Schlagzeilen gesorgt – erlaubt waren nur 6000. Es kam auch gewalttätigen Auseinandersetzungen. Viele Teilnehmer hielten sich nicht an Auflagen wie das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Kritiker hatten der Polizei dort ein zu zurückhaltendes Auftreten bei der Demo der Corona-Maßnahmen-Gegner vorgeworfen.

In Stuttgart zogen die Demonstranten von der Innenstadt zum Cannstatter Wasen, wo die «Querdenken»-Bewegung aus Protest gegen die Corona-Politik zu einer Kundgebung aufgerufen hatte. Eine bunte Mischung von Menschen lief größtenteils ohne Masken, dicht an dicht, viele tranken Bier, es herrschte Volksfeststimmung mit Getrommel und Gesängen. Nach Angaben des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV) wurden aber auch mehrere Journalisten angegriffen. Journalisten des SWR wurden mit einem harten Gegenstand beworfen. Eine Live-Schalte zum Sender Tagesschau24 musste abgebrochen werden.

Bundesaußenminister Heiko Maas rügte die Kundgebung scharf. Alle hätten das Recht zu demonstrieren, schrieb der SPD-Politiker auf Twitter. Beleidigungen und Übergriffe auf Journalisten und Journalistinnen hätten mit Demonstrationsfreiheit rein gar nichts zu tun. «Das sind Angriffe auf Pressefreiheit. Sie müssen verfolgt und geahndet werden.» Marcus Bornheim, erster Chefredakteur ARD-aktuell, nannte es im Twitter-Kanal der Tagesschau «ein Armutszeugnis», wenn solche Veranstaltungen genützt würden, um die Pressefreiheit zu attackieren. «Wir verlangen von der Polizei Aufklärung zu diesen Vorfällen.» Die Angriffe auf Journalisten kritisierte auch SWR-Intendant Kai Gniffke. «Die SWR-Mitarbeitenden sind bei ihrer Arbeit auf Konfrontationen vorbereitet, agieren besonnen und vermeiden die Eskalation. Sie sind auch nicht empfindlich. Aber es gibt Grenzen. Wir müssen uns nicht alles bieten lassen», so Gniffke.

Minister Strobl will klären, ob solch «gefährliche Veranstaltungen» in der Corona-Pandemie erlaubt werden müssen. «Auch die Demonstrationsfreiheit verlangt verantwortungsvolle Bürger. Unsere Grundrechte sind nicht grenzenlos und rechtfertigen nicht jedes verantwortungslose Verhalten – schon gar nicht die Gefährdung der Gesundheit und des Lebens anderer Menschen», sagte Strobl am Montag. Auch Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) betonte, solche Vorfälle sollten sich nicht wiederholen. «Es ist eine gesamtgesellschaftliche Gefährdung und dazu geeignet, die dritte Corona-Welle zu befördern.» Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) kündigte an, künftige Veranstaltungen derselben Anmelder von Demonstrationen gegen die Corona-Politik wegen Auflagenverstöße verbieten zu wollen.

Zwischen Stadt und Gesundheitsministerium brach am Wochenende ein offener Streit aus: Denn Luchas Ministerium hatte vor der Demonstration gewarnt. «Meine Prognose ist, dass die Hygieneregeln bei der Veranstaltung nicht eingehalten werden», hatte Ministerialdirektor Uwe Lahl erklärt. Laut Lucha gibt die gültige Corona-Verordnung des Landes ein Verbot solcher Massenversammlungen her. Der Stuttgarter Ordnungsbürgermeister, Clemens Maier (Freie Wähler), sieht das anders und verteidigt die Strategie von Stadt und Polizei. «Ich glaube, wir haben das Beste daraus gemacht.»

Wenn das Ministerium tatsächlich diese Rechtsauffassung vertreten sollte, hätte es die Stadt auch anweisen können, die Versammlung zu verbieten, sagte Maier. «Das ist aber nicht erfolgt». Die Veranstalter der Versammlungen vom Samstag würden zur Rechenschaft gezogen.» Der Stuttgarter SPD-Kreisvorsitzende Dejan Perc forderte den Rücktritt von Maier. «Das Bild, das Stuttgart gestern abgegeben hat, ist beschämend», sagte Perc.

Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Uli Sckerl, will eine lückenlose Aufklärung darüber, wie es zu den massenhaften Verstößen kommen konnte. Die SPD-Fraktion im Stuttgarter Landtag beantragte zu diesem Thema eine Sondersitzung des Innenausschusses. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Christian Jung (FDP) bezeichnete die Regelverstöße als Sicherheitsdesaster.

Die Deutsche Polizeigewerkschaft ging mit der Stadt hart ins Gericht. «Offensichtlich scheint es ein Missverständnis zu geben, wenn die Stuttgarter Stadtverwaltung und damit die Versammlungsbehörde sich um klare Entscheidungen drückt und der Polizei dann den Mist vor die Füße kippt.» Der Sprecher der Stuttgarter Polizei, Stefan Keilbach, sagte: «Wir haben von vornherein gewusst, dass wir nicht nur in der Vorbereitung, sondern auch beim Ausführen zwischen den Stühlen sitzen. Das war eine belastende Aufgabe. Der Einsatz selbst war friedlich». Laut Polizei wurden bisher 254 Corona-Verstöße geahndet.

Das Landesamt für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg beobachtet die «Querdenken»-Bewegung. Die Behörde ordnet mehrere Akteure dem Milieu der «Reichsbürger» und «Selbstverwalter» zu, die unter anderem demokratische und rechtsstaatliche Strukturen negieren. Die «Querdenken»-Bewegung weist diese Vorwürfe zurück.

 

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